Ein Problem, das viele Anfänger (aber auch Erfahrenere) als Trainingspartner (uke) haben, ist das richtige Timing, mit dem sie sich fallen lassen oder abrollen sollen. Manche lassen sich zu früh fallen, obwohl der Werfende (tori oder nage) die Technik zwar angesetzt, aber noch nicht ausgeführt hat. Manche warten so lange, bis die Technik sie schmerzhaft von den Beinen reißt, und beschweren sich hinterher über die „Grobheit“ ihres Übungspartners. (Zu dem Thema habe ich mich bereits anderweitig ausgelassen.)
Dieser Problematik wird auch nur selten durch eine Begriffserklärung abgeholfen. Ukemi, im Jūdō und Aikidō meist als „Fallschule“ übersetzt, bedeutet nämlich im allgemeinen Sprachgebrauch „passiv“. Und so verhalten sich denn auch viele Übende, wenn sie geworfen werden, nämlich passiv. Sie reagieren, wenn überhaupt, ausschließlich auf die Aktionen ihrer Partner und wundern sich, dass sie nicht rechtzeitig genug hinterherkommen, um ernste Schmerzen zu vermeiden. Die ganz Pfiffigen werden daraufhin „pro-aktiv“ und versuchen wiederum mit vorschnellem Fallen, Abrollen oder sogar Springen der Technik vorwegzugreifen. Das geht aber nur gut, weil sie zu wissen vermeinen, was auf sie zukommt. Macht der Partner nämlich plötzlich eine andere Technik, geht die im Voraus beschlossene Rolle meistens schief. (Abgesehen davon hindert man den Partner daran, die Technik ordentlich zu üben!)
Gutes ukemi stellt daher eine feine Gratwanderung zwischen „zu spät“ und „zu früh“ und zwischen „passiv“ und „aktiv“ dar. Ein Bild, das mir dabei einmal durch den Kopf schoss, war das einer Aikidō-Technik als sich bewegendes Schiff. Das Schiff schiebt eine Bugwelle vor sich her, die sich aus Atmung, Intention und Willenskraft des Werfenden konstituiert. Als uke zu fallen, bevor die Bugwelle ankommt, d.h. die Bugwelle vorwegzunehmen, ist aus den oben beschriebenen Gründen falsch. Uke reagiert nicht auf das, was tori macht und hindert ihn so daran, die Technik zu üben.
Zu warten, bis die Bugwelle über einen hinweggerollt ist, ist auch nicht richtig, weil man sich dann den Kopf am Schiffsbug stößt, d.h. man tut sich weh und verletzt sich.
Gutes ukemi dagegen ist es, den Aufbau dieser Bugwelle aus Atmung, Intention und Willenskraft (= ki) des tori zu spüren und sich in die richtige Position zu bringen, um sie dann wie ein Surfer reiten zu können. Nicht nur, dass das nicht wehtut, es trainiert auch das Gespür für das, was der Trainingspartner eigentlich macht. Denn erst hier merkt man eigentlich, was während einer Technik alles passiert, was ein Trainingspartner anders macht, als man selbst, all die kleinen Details, die eine Bewegung effektiv machen.
Das Bild von der Bugwelle gefällt mir umso mehr, als man damit auch die Niveauunterschiede zwischen uns normal Sterblichen und den großen Meistern anschaulich machen kann. Bei den großen Meistern ist die Technik nämlich so scharf, sie schneiden so schnell durchs Wasser, dass zwischen Bugwelle und Bug (= Körper) praktisch kein Abstand mehr besteht. Das macht es einem als uke auch unglaublich schwierig, angemessen darauf zu reagieren. Gerade darum ist es als uke unabdingbar, sich ein feines Gespür für tori anzueignen, um sich trotzdem nicht zu verletzen. Und nur so wird man in der Lage sein, die „Geheimnisse“ eines Meisters anzueignen und sie zu entschlüsseln. Denn die wichtigen Dinge sind für das Auge unsichtbar! ;-)
(Autor: Max Seinsch)
Max Seinsch (Wednesday, 24 July 2013 21:37)
Sven, danke für das nette Lob!
Marek, danke für den Hinweis! Ich hätte gern entgegnen können, dass ich nur testen wollte, ob es jemandem auffällt. Stattdessen schiebe ich es lieber auf "literarische Freiheit". ;-)
Sven (Wednesday, 24 July 2013 18:13)
Sehr schöner Artikel Max!
Marek (Wednesday, 24 July 2013)
"Das Wesentliche", lieber Max, "das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."