Aikido no kokoro: Das Herz des Aikido

Das Herz des Aikidō

(Übersetzung: Aufsatz zur Prüfung zum 3. dan)

Ich weiß nicht, was das Herz oder die Essenz des Aikidō ist. Oder, um es anders auszudrücken, bin ich noch nicht weit genug fortgeschritten, um das zu begreifen. Möglicherweise habe ich einfach noch nicht genug trainiert, um das zu verstehen. Dann stellt sich mir aber auch die Frage, ob man, je mehr man trainiert, auch immer weiter Fortschritte machen kann. Und das ist, ohne eine gewisse Begabung, nicht unbedingt möglich. Dann wird allerdings auch der Zweifel wach, ob es überhaupt eine Bedeutung hat, Aikidō immer weiter zu üben bzw. sein Training über Jahre fortzusetzen, und, sollte es eine Bedeutung haben, worin diese liegt. An dem Punkt bin ich auf den Gedanken gekommen, ob nicht im Üben, im Training selbst die Bedeutung liegen könnte.

 

DIE zentrale Aktivität im Aikidō ist das Training (jap. 稽古 „keiko“). Es mag durchaus Menschen geben, die nach dem Motto „Budō beginnt mit Respekt und endet mit Respekt“ mit Aikidō oder einer anderen Kampfkunst begonnen haben, um traditionelle Etikette und Umgangsformen zu erlernen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass die meisten Menschen genau wie ich damit angefangen haben, um Kraft und Stärke zu erlangen. Wenn man aber mit Aikidō angefangen hat, um japanische Etikette und Umgangsformen zu lernen, hört man doch nicht mit dem Training auf, sobald man sich diese angeeignet hat. Auch wird es wohl kaum vorkommen, dass man, sobald man stark und kräftig geworden ist, sich ins Rotlichtviertel aufmacht, um Streit zu suchen. Im Gegenteil wird sich wohl eher der Gedanke durchsetzen, dass man nicht kämpfen will, dass man Aikidō nicht in einem echten Kampf einsetzen möchte. Es wird wohl nicht übertrieben sein zu behaupten, dass die meisten eine Kampfkunst trainieren, um sich nicht streiten, um nicht kämpfen zu müssen.

 

Es geht auch nicht darum, wie in anderen Sportarten in Wettkämpfen und Turnieren um Sieg und Niederlage zu kämpfen. Man stellt auch keine Kunstwerke wie Gemälde oder Keramik her. Von Zeit zu Zeit gibt es auf öffentlichen Vorführungen die Gelegenheit, die Resultate seines Trainings zu zeigen, aber es wird wohl niemanden geben, der Aikidō lernt, um sich auf Vorführungen zu beweisen. Auch wenn es manchmal Menschen geben soll, die nur wegen der Dusche zum Training gehen oder weil ihnen ihr Bier hinterher einfach besser schmeckt. Das allein macht es uns allerdings nicht leichter, einen Grund zu finden, Aikidō zu trainieren. Weder gibt es Wettkämpfe oder Turniere, noch kann man mit einer olympischen Goldmedaille Ruhm und Ehre gewinnen. Und so, wie man keine Kunstwerke schafft, hinterlässt man der Welt auch nichts anderes Konkretes, was Form und Gestalt hätte. Und ein Bier schmeckt auch nach einem Langlauf köstlich genug.

 

Budō wird auf Englisch mit „martial arts“ übersetzt, was auf Deutsch soviel wie „kriegerische Künste“ oder „Kampfkünste“ bedeutet. Allerdings habe ich doch das Gefühl, dass es zwischen Aikidō bzw. Budō und Kunst einen Unterschied gibt. Zum Beispiel werden Ballett oder die traditionellen Tänze Japans, wo auch Bewegung im Fokus steht, gerade dadurch zur Kunst, dass sie in Aufführungen vor großem Publikum dieses in emotionale Bewegung und Begeisterung versetzen. Das kann eine Aikidō-Vorführung auch, aber das ist nicht der Zweck des Aikidō, es geht nicht darum, anderen Menschen eine Schau zu bieten. Im Umkehrschluss würde ich aus eigener Erfahrung sogar sagen, dass man beim Training nicht beobachtet werden möchte, weil das die Konzentration stört. Außerdem ist es zwar nicht uninteressant, beim Aikidō-Training zuzusehen, aber beim Zuschauen fällt es mir persönlich immer schwer stillzuhalten, weil es mir unter den Fingernägeln juckt, mitzumachen und mich selber zu bewegen. Für einen Laien mag es am Anfang noch interessant sein, beim Aikidō zuzusehen, aber mit der Zeit wird es wohl immer langweiliger werden.

 

Trotzdem haben die japanischen Kampfkünste und die schönen Künste auch Gemeinsamkeiten. In dem Fernsehprogramm „Ein Jeder wird zum Picasso“ hat Beat Takeshi einmal gesagt: „Ein Künstler muss ein Profi sein. Jemand, der von seiner eigenen Kunst nicht leben kann, ist weder ein Profi, noch ist er ein Künstler.“ Dem wage ich es zu widersprechen. Im Laufe der Geschichte gab es eine Vielzahl von großartigen Künstlern, die, ein bettelarmes Leben führend, ihrer Kunst nachgingen, ohne von den Menschen ihres eigenen Zeitalters Anerkennung zu erlangen. Gerade weil sie dennoch ihre eigenen künstlerischen Ideale verfolgten, ohne sich den Geschmäcken und Moden ihrer Welt unterzuordnen, wurde ihnen meines Erachtens im Nachhinein die ihnen zustehende Anerkennung zuteil.

 

Diese Haltung erscheint mir der geistigen Einstellung vieler japanischen Handwerker sehr ähnlich zu sein. Sich mit der Herstellung eines Produkts nicht zufrieden zu geben, selbst wenn kein Profit mehr zu erwarten ist, bis man es zu einem Kunstwerk fertig stellen konnte: Wenn man eine solche Einstellung von der Logik her auch nicht nachvollziehen kann, so kann man dieser Mentalität doch großen Respekt entgegen bringen. Im Bereich des Sports ließe sich der berühmte Baseballspieler Ichirō Suzuki vielleicht auf die gleiche Weise deuten. Natürlich war und ist er immer noch ein höchst erfolgreicher Sportler, der hochdotierte Verträge erlangen konnte. Allerdings habe ich bei ihm das Gefühl, dass gerade er auch ohne große Gehälter auf die gleiche Art und Weise Baseball spielen würde. Das Geld mag ein willkommener Nebeneffekt sein, aber es ist nicht Sinn und Zweck der Sache. Nicht wegen des Geldes, sondern weil er gegen die besten Baseballprofis der Welt spielen wollte, ist er wohl nach Amerika gegangen.

 

Auch im Aikidō ist eine solche Einstellung, die sich wie ein japanischer Handwerker mit Mittelmäßigkeit kaum zufrieden stellen lässt, von großer Wichtigkeit. Darauf läuft das Training im Aikidō letzten Endes hinaus, die Techniken zu üben und zu trainieren, sie zu schmieden wie ein Schwert. Dem Körper die Techniken durch vielfache Wiederholungen einzuverleiben, bis sie einem in Haut und Knochen übergegangen sind, der idealen Form einer Technik anzuhängen und sie beharrlich zu verfolgen, um ihr auch nur ein kleines bisschen näherzukommen, und sie darüber hinaus noch zu perfektionieren: Das ist keiko, das ist das Training im Aikidō. Das mag keine Kunst sein, aber mir scheint, es liegt sehr nah an dem Drang zur Perfektion eines Handwerkers dran. Das Herz des Aikidō mag mir noch lange nicht begreiflich sein, aber im oben beschriebenen Sinne werde ich mich auch in Zukunft dem Training widmen.

(Autor: Max Seinsch)