„bōryoku no yobō“ Gewaltprävention
Andreas Gandow
Seminarbericht: „Umgang mit Aggression und Gewalt“
Das Anti-Gewalt-Projekt der Berliner Polizei (Landeskriminalamt - LKA Präv 2) vermittelt in Informationsveranstaltungen, Seminaren und Workshops den Umgang mit Aggression und Gewalt im öffentlichen Raum, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Schul- und Kita-Bereich und in beruflichen Zusammenhängen.
Für die meisten Menschen sind gewalttätige Situationen ein seltenes Ereignis. Ihnen fehlt daher die Handlungsroutine, um die eigene Bedrohungssituation zu bewältigen oder anderen effektiv und ohne Eigengefährdung helfen zu können.
Das Ziel dieser Seminare ist es, Strategien zum deeskalierenden und gewaltfreien Verhalten in Konflikt- und Bedrohungssituationen zu vermitteln oder gemeinsam zu erarbeiten, um damit die Handlungskompetenz und das subjektive Sicherheitsgefühl der Teilnehmer an diesen Veranstaltungen zu verbessern. Hierbei werden polizeiliche Erfahrungen und psychologische bzw. kommunikationswissenschaftliche Erkenntnisse verwendet.
Leitung des 3stündigen Seminars: Timo Hartmann, LKA Präv 2, ca. 40 Jahre alt, Migrationshintergrund (Vater: Türke), seit seiner Jugend Kampfsport (Boxen), nach der Fachhochschule seit 1995 bei der Kripo. Arbeitsschwerpunkt: Organisierte Kriminalität (Rockerbanden). Zitat: „Mir ist nichts fremd.“
Basis des Seminars ist eine Analyse von Opferaussagen sowie Tätererklärungen, in den Fällen, wo es nicht zur Tatumsetzung gekommen ist.
Charakteristische Täteraussage: „Ich suche mir Opfer, nicht Gegner.“
Einleitend wird eine Aufzeichung aus der U-Bahn in Frankfurt a.M. gezeigt, wo als Neonazis auftretende Schauspieler einen Afrikaner bedrängen, verbal demütigen und körperlich belästigen. Ergebnis: Die Fahrgäste sind erschrocken, keiner greift ein.
Bei Angst bekommen Menschen einen Adrenalinschub und Blut fließt vom Kopf in den Körper. Die eigentliche Folge ist Schmerzunempfindlichkeit und erhöhte Leistungsfähigkeit [Vorbereitung zum Kämpfen], aber auch Zittern, erhöhter Herzschlag und Schweißausbruch. Natürliche Reflexe sind Flucht, Schreckstarre oder Angriff!
Jeder sollte sich bewusst machen, welcher Reflex bei ihm dominiert, um ihn zu kontrollieren.
Diese nur noch eingeschränkte Fähigkeit, klar zu denken, macht es nötig, dass eine bereits vorab gespeicherte, sinnvolle Handlungsweise aus dem Unbewussten abgerufen wird. Hartmann charakterisiert das passive Fahrgastverhalten mit den Begriffen „Verantwortungsdiffusion“ (Warum gerade ich?) und „pluralistische Ignoranz“ oder einfach: „Dummheit der Masse“.
Alle haben Angst, Scham ist daher nicht nötig: Angst ist auch ein zum Überleben wichtiges Gefühl. Wichtig ist aber das Ausbrechen aus dem Teufelskreis, um mit einem neuen Verhalten einen Impuls zu geben, Leithammel zu sein, dem dann die Anderen folgen.
Hierzu 3, 4x tief durchatmen, Andere ansprechen und involvieren. Lächeln ist grundfalsch, weil es nur missverstanden wird.
Folgende Prinzipien haben sich als sinnvoll bei der Verhinderung der Tatumsetzung erwiesen, die zu verinnerlichen sind:
1) „Erste Wahrnehmung“: Achtsamkeit, besonders kommt es auf die Augen, den Blick des potentiellen Täters an, dann die Sprechweise, Stimme, Körpersprache, Gestik, Alkoholgenuss. Bei Waffenbesitz ist sofort Flucht angesagt!
Eine grölende Gruppe intendiert die Provokation, jegliche Zurechtweisung ist fehl am Platz: „Es gibt für alles den richtigen Ort und den richtigen Zeitpunkt.“ 95% der Kommunikation läuft nonverbal ab.
2) „Eigene Gefühle ernstnehmen.“ (Schon wie der reingekommen ist.) „Die innere Stimme ist unsere Alarmanlage.“
3) „Abstand einhalten“, also außer Schlag- und Trittweite.
4) „Frühzeitig handeln.“ Es gibt immer eine Vorgeschichte und eine graduelle Eskalation zu einem Point of no-return.
5) „Agieren und nicht reagieren.“ Also nicht Kraft gegen Kraft sondern unerwartet handeln.
6) „Nicht provozieren“, etwa durch Lächeln, Ignoranz.
7) „Ein klares Stopp setzen“: Laut sprechen und Öffentlichkeit herstellen. Immer Ansprache per „Sie“, um den Täter nicht zu provozieren und bei den Umstehenden keine Missverständnisse zu erzeugen.
8) „Klare, machbare Aufgaben zuweisen“ an die Umstehenden oder anderen Fahrgäste, hierbei niemals aufgeben: „Kein Opfer werden!“
9) Bei Verfolgung nach Verlassen des Bahnhofs: „Die Örtlichkeit verlassen, sich entziehen und an einen sicheren Ort begeben.“
Schneller Laufen weckt den Jagdinstinkt des potentiellen Täters, vielmehr mehrere Richtungswechsel, Straßenseitenwechsel, laut telefonieren (auch ohne Mobiltelefon), Öffentlichkeit herstellen in konkreter Weise: „Hilfe-Polizei-Überfall!“ („Feuer“ rufen ist out, da unwirksam.) Flucht in eine Kneipe, Tankstelle oder einen Spätkauf. (Sind häufig videoüberwacht, deshalb auf die Kamera zeigen, das bringt wegen des Nachahmungsreflexes ein Gesichtsbild des Täters.)
Oder auf die Straße laufen und Autos anhalten.
10) „Keine Selbst- und Fremdgefährdung“ bei Hilfeleistungen.
Konkretes zur Hilfe im Bahnbereich: In der U-Bahn lässt das Ziehen der „Notbremse“ (faktisch ein Notalarm) den Zug am nächstfolgenden Bahnhof halten. Der Fahrzeugführer nimmt Kontakt auf und informiert die Zentrale. Daher möglichst konkrete Angaben: „Hier wird einer zusammengeschlagen!“ Benutzung ist bei Gefahr für Leib und Leben zulässig!
Dann laute Ansage an die Mitreisenden: „Der Alarm wurde betätigt, Hilfe ist auf dem Weg!“
Der Zugführer muss erscheinen, um den Notalarm vor Ort zu beenden.
Täterbeschreibung: gedanklich von unten nach oben, Gesicht als letztes, da das am meisten in der Erinnerung bleibt.
Sicherheitstechnik auf dem U-Bahnsteig: Roter Nothalt-Alarm, der verhindern soll, dass ein Zug in den Bahnhof einfährt, Notrufsäule sowie Feuerlöschgeräte.
Eine Öffnung der jeweiligen Tür (geräuschlos) löst ebenfalls Alarm und Kontakt mit der Zentrale aus. Dann Video-Aufzeichnung (sonst Überschreibung nach 30 Sekunden.).
Bei der S-Bahn und DB sind andere Konstellationen vorhanden, hier gibt es noch die klassische Notbremse.
Abschluss-Zitat von Ludwig Markuse: „Wie mutig man ist, weiß man immer erst nachher.“
Im Folgenden die offizielle Polizei-Version der Prinzipienkette zum Verhalten bei Gewalt und Aggression in der Öffentlichkeit:
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!
Genau so, wie Sie im Straßenverkehr durch vorausschauendes Verhalten Gefahren rechtzeitig erkennen und vermeiden können, ist es möglich, frühzeitig Situationen aus dem Weg zu gehen, die zu Aggression oder Gewalt führen könnten.
Vertrauen Sie Ihrem Gefühl!
Gefühle sind häufig ein „Gefahrenradar“. Menschen bemerken meist instinktiv, dass sich eine bedrohliche Situation ankündigt. Lassen Sie sich in einem solchen Moment von Ihren Gefühlen leiten. Angst z.B. ist ein wichtiges Gefühl. Versuchen Sie nicht, diese zu verdrängen. Es ist jedoch nicht nötig, ständig Angst zu haben, da Gewalt individuell nur sehr selten vorkommt. Übertriebene Kriminalitätsfurcht verhindert das Erkennen tatsächlicher Gefahren.
Weichen Sie der Gefahr frühzeitig aus!
Je früher Sie eine mögliche Gefahr erkennen, umso größer ist Ihre Chance, diese abzuwenden. Gehen Sie Menschen, die auf Sie gefährlich wirken, bewusst aus dem Weg. Halten Sie Abstand. Auf der Straße wechseln Sie wie selbstverständlich die Straßenseite. Begeben Sie sich in Gefahrensituationen möglichst in die Nähe anderer Menschen. Wählen Sie bei Dunkelheit bevorzugt gut beleuchtete und belebte Wege.
Tun Sie etwas Unerwartetes!
Täter erwarten von Ihrem Opfer meist ein bestimmtes Verhalten. Versuchen Sie, sich möglichst selbstbewusst zu geben und keine Angst zu zeigen. Lassen Sie sich nicht auf den Täterplan ein. Wenn Personen Sie anpöbeln, um Sie zu provozieren, schimpfen Sie nicht zurück, sondern gehen Sie ohne anzuhalten einfach weiter.
Verblüffen Sie Täter mit überraschenden Aktionen. Täuschen Sie z.B. Telefonate mit dem Handy vor. Simulieren Sie Krankheiten, Übelkeit oder fangen Sie laut an zu singen, um dadurch die Täter aus dem Konzept zu bringen.
Setzen Sie Grenzen!
Weisen Sie klar und unmissverständlich darauf hin, dass Sie bestimmte Dinge, wie z.B. zu dichtes Herankommen oder Anfassen, nicht wünschen. Provozieren Sie den Täter dabei jedoch nicht. Reden Sie die betreffende Person mit „Sie“ an, damit Außenstehende erkennen, dass Sie von einem Fremden belästigt oder bedroht werden.
Wecken Sie Aufmerksamkeit!
Straftaten werden meist dort begangen, wo sich die Täter unentdeckt fühlen und sie keine Strafverfolgung und kein Entdeckungsrisiko fürchten müssen. Holen Sie die Täter aus der Anonymität heraus und machen Sie deren Fehlverhalten öffentlich. Beziehen Sie andere Menschen (z.B. andere Fahrgäste in der U-Bahn, Fußgänger) mit ein. Schreien Sie und machen Sie auf Ihre Lage aufmerksam. Andere Menschen müssen mobilisiert werden. Sprechen Sie Personen direkt an, von denen Sie Hilfe wünschen. Sagen Sie konkret, von wem Sie welche Hilfe erwarten, z.B.: „Sie mit der roten Jacke, rufen Sie die Polizei!“ Viele sind bereit zu helfen.
Entziehen Sie sich der Situation und dem Täter!
Nutzen Sie so schnell wie möglich jede Chance zur Flucht. Entfernen Sie sich möglichst aus dem Sichtfeld des Täters, um weitere Angriffe zu vermeiden. Flüchten Sie dahin, wo andere Menschen sind.
Helfen Sie, ohne sich selbst oder andere zu gefährden!
Jeder kann Hilfe leisten. Wenn Sie in Gefahrensituationen helfen, ist es wichtig, sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Dabei haben sich folgende Punkte als wirkungsvoll und sicher erwiesen:
Zur Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln:
Am sichersten sind Sie immer dort, wo Sie in der Nähe anderer Menschen sind. Daher ist es ratsam, besonders abends und nachts, einen U- oder S-Bahn-Waggon zu wählen, in dem sich bereits mehrere andere Personen befinden. Bei ansonsten leeren Zügen können Sie den ersten Waggon wählen, da Ihnen der Fahrer so am schnellsten zur Hilfe kommen kann. In Bussen ist der sicherste Platz in der Nähe des Fahrers. Scheuen Sie sich nicht, in einer riskanten Situation die Notbremse zu ziehen. Der Zug (U- und S-Bahn) hält dann im nächsten Bahnhof an und fährt erst weiter, wenn der Zugführer die Notbremse wieder sichert. In vielen Fällen schreckt dies die Täter ab.
Bewaffneter Raubüberfall:
Sollten Sie in die unwahrscheinliche Lage geraten, in einen bewaffneten Raubüberfall verwickelt zu sein, ist das einzig Richtige, den Forderungen des/der Täter/s nachzugeben. Ihr Leben ist wichtiger als alle Wertsachen. Waffen bedeuten immer eine absolute Gefahr für Ihr Leben!
Waffen allgemein:
Die Polizei rät generell davon ab, sich zu bewaffnen (Messer, Pfefferspray usw.). Der Einsatz von Waffen könnte den Täter zusätzlich provozieren und ihn noch aggressiver machen. Es ist auch denkbar, dass der Täter Ihnen die Waffe entreißen und diese nun gegen Sie richten könnte.
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